Nahrungsmittel und Neurosen
Blutwurst und Rosinensemmeln
Teil I. Hier geht´s zum Teil II, Keimfreiheit
Der nette Tomatenanbauer unter Industrietomaten überraschte eines Tages, weil seine beliebten Ochsenherzen auf einmal verschwunden waren. Stattdessen bot er "große Fleischtomaten" an, die aber genauso aussahen.
Auf die Frage, ob denn das nun andere seien, kam die Antwort: "Nein, das sind diesselben, aber ich habe eine Kundin, die sie nicht kaufen kann, wenn "Ochsenherzen" dransteht".
Da ist bemerkenswert, denn es gibt weitere Beispiele. An anderen Ständen, auch in Metzgereien, wird "Rotwurst", manchmal auch "Schwarzwurst" verkauft. Das ist zwar nicht falsch, lenkt aber vom Kern der Geschichte ab, denn es handelt sich um die allbekannte "Blutwurst". Die Benennung leitet sich auf einmal von der Oberfläche, vom "Schein", nicht aber vom Inhalt ab. Niemand aber hätte das Bedürfnis, die Leberwurst als "Grauwurst" o.ä. zu benennen.
Dazu zwei kleine Geschichten:
Das Patenkind, 10 Jahre alt, hat Hunger. Der Kühlschrank bietet nicht viel Auswahl, aber immerhin einen ordentlichen Zipfel Blutwurst.
Also eine Scheibe Brot her und ein paar Stücke der Wurst drauf. Zu Ende ist so gut wie alles aufgeputzt.
"Hat´s geschmeckt?".
"Ja, lecker, aber nun bin ich satt."
Sie wird gelobt: Also, nie hätte jemand angenommen, dass ihr die Blutwurst so schmecken würde, das sei erstaunlich.
Sie guckt alamiert, puhlt mit der Gabel zwischen den Speckstücken in einer restlichen Blutwurstscheibe ein Stückchen heraus und fragt:
"Du meinst, das hier, das ist Bluuu-huut?"
"Ja, ist es, was dachtest Du denn? Habe ich Dir doch gesagt."
"Iiii, aber ich dachte, das würde nur so heißen!"
Ende der Blutwurstgenusses im Leben, denn bis dahin war es einer. Sie schneidet sich den Genuss wahrscheinlich für immer ab. Dass die Wurst obendrein auch noch in einer Naturpelle und nicht in Plastik steckte, wusste sie nicht.
Eine Bekannte kann nichts, keine Semmel, keinen Kuchen, mit Rosinen verzehren. Grund: Als Kind hatte ihr mal jemand gesagt, es handle sich um Fliegen.
Wo liegt der Unterschied zwischen den drei Fällen? Im zweiten handelt es sich tatsächlich um das Bezeichnete, Blut eben, während es sich im ersten und dritten Fall um reine Gedankenverbindungen handelt, die rein gar nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben. Die Fälle eins und drei sind ist psychologisch betrachtet viel gravierender, denn von einem mit Ratio ausgestatteten Erwachsenen sollte man erwarten können, dass er irgendwann im Leben über solche Nichtigkeiten hinweghüpfen könnte. Kann er aber nicht. Es handelt sich um angstbewehrte Zwänge, die bestimmte Reaktionen auslösen.
Gefürchteter Schlacht- und Schreckensruf: Das schmeckt nicht!
Weitere Beispiele:
Frühstücksrunde im Café. Einer schnibbelt den Speckrand des Schinkens ab, lässt ihn auf dem Teller liegen.
Frage an ihn: Warum?
Antwort: Nun, ich mag kein Fett
Frage mit Fingerzeig auf ein fein säuberlich geleertes Butterschälchen auf dem Teller: Und was ist da hier?
Antwort: Das ist Fett zum Schmieren.
Klasse! Auf weiteres Nachbohren, warum denn Schmierfett, das doch eher abstößig wirkt, weil man einen schmierigen, klebrigen Fettbatzen vor Augen hat - s. auch die berühmten Fettecken von Joseph Beuys - denn nun besser sei, als der festere Speck, wird abgewehrt. Man müsse ja nicht alles psychologisieren, er sei ja frei in seiner Entscheidung, könne machen, was er wolle, was jemand anderen das angehe usw., also eine ziemlich aggressive, nachdrückiche Abwehr, die nur eins aussagt: Lass mich in Ruhe!
Dieselbe Runde bei anderer Gelegenheit
Die Eier kommen allen zu weich daher, "iie" und "bah", ein Aufstand droht, der Kellner wird gerufen, man möge sie doch noch mal ein, zwei Minuten ins Wasser geben.
Nun ja, das Ei ist das Ei, fest oder schlabbrig, es ist und bleibt dasselbe Lebensmittel, nur die Konsistenz ist eine andere. Auch der Joghurt wäre wohl ähnlich. Nur schieben sich beim Ei wieder die unangenehmen Gedankenverbindungen dazwischen. Das ist der Unterschied.
Dr. Oetkers Schulkochbuch ohne Glibberzungen
In dem Buch, ein Klassiker seit vielen Jahrzehnten, alle fünf Jahre neu aufgelegt, fehlt seit der letzten oder vorletzten Auflage die Rinderzunge in Burgundersoße. Grund: Die Redaktion sei der Meinung, das koche niemand mehr. In Süddeutschland, katholisch geprägten Ländern, sei sie zwar noch in den Metzgereien erhältlich, oft nur auf Bestellung, aber sonst kaum noch.
Wenn sich das so verhält, dann lautet die Frage doch: Warum wird sie nicht mehr nachgefragt?
Anscheinend doch deswegen: Der Gedanke an eine "Innerei", dabei auch noch die Gedankenverbindung mit Speichel, Glitschig- und Schlabbrigkeit, erzeugt Ekel. In Wirklichkeit handelt es sich aber um bestes Muskelfleisch, normalerweise also die wertvollsten Stücke. Ob das nun im Maul hängt oder andernorts im Körper untergebracht ist, ist völlig wurscht. Finden tut man sie - auch fein versteckt - in der sogenannten Zungenwurst, einer groben Blutwurst mit Zungenstückchen, womit dann ein doppelter Schrecken versammelt ist, ansonsten natürlich unerkennbar in allen möglichen Würsten.
Zur Psychologie der Nahrungsmittel
Die Zeiten sind aber nun so, dass das nicht mehr ausgehalten wird. Es sind die starken Gefühle, der Ekel, welche die dahinterstehende Geschichte verraten. Wenn immer die auftreten, wird´s spannend.
Vermutlich wird ein großer Teil unseres Essens, unserer Nahrungsmittel, nicht verzehrt, bzw. er wird auch einfach weggeworfen, weil dabei unangenehme, störende Gedanken auftreten, die mit der eigentlichen Speise rein garnichts zu tun haben. Und dies immer stärker im Prozess der Entwicklung unserer Gesellschaft, wo sich wie die Schamgrenzen u.a. auch die Ekelgrenzen verschieben.
Eltern kriegen regelmäßig zuviel, wenn der Nachwuchs irgendwelche Speisen ablehnt, oft schon bevor er sie probiert hat, was beweist, dass andere Hindernisse als der Geschmack im Spiel sind: Aussehen, Geruch, Beschaffenheit (Konsistenz). Aber es ist die Brut der Elten. Die haben sie gemacht, auch psychisch. Wer nachbohrt, intelligente Fragen stellt - und nur Fragen, keine Aussagen trifft - sondern mal fragt, woran denn da was erinnere, den Dingen auf den Grund geht, der wird immer wieder auf dasselbe stoßen. Und das ist höchst erstaunlich ...
Die Verweigerung, der Ekel, rührt von den Eltern selbst her, genauer gesagt den Müttern, da diese doch die Kinder erziehen. Die Frauen sind über die Kinder letztlich mit sich selbst, ihren eigenen Ängsten, konfrontiert. Sie sind ursächlich, haben den Schaden im Kopf veranstaltet. Nur gehen sie ja mit der ganzen Gesellschaft konform. Sie sind "normal", alle anderen, Individuen, Gesellschaften, Völker, sind die "nicht normalen". "Wir" und "die anderen".
Teil I. Hier geht´s zum Teil II, Keimfreiheit
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Fotos: die erschröckliche "Bluuhuutwurst," Ochsenherz ganz und aufgeschnitten